DAS OMNIPRÄSENTE AUGE

ANMERKUNGEN ZUR ARBEIT EINES BILDCHRONISTEN von Edith Almhofer

Es ist schon eine große Verführung da, Wirklichkeit vermeintlich zu sehen mit der Kamera... Das ist das Spannende an der Fotografie. Einerseits dieser totale Anspruch auf Authentizität und andererseits diese totale Manipulierbarkeit und Ausschnitthaftigkeit - in Raum und Zeit.
Leo Kandl, 1989

Der insistierende Blick, der im Alltäglichen das Besondere ausmacht, kennzeichnet das facettenreiche Werk Leo Kandls, dessen verwirrend vielfältige Bildfindungen seit den späten siebziger Jahren wesentlich um ein Thema kreisen: Die Dokumentation eines Lebensgefühls. Was die durchwegs in Wien entstandenen Bilder bezeugen, weist allerdings weit über die bloße Affirmation des lokal Typischen sowie die Analyse überkommener Klischees hinaus. Mit so heterogenen Werkblöcken wie den frühen "Portraits", der legendären Weinhausserie, den Zyklen "Straßenbilder", "Aus dem Fundus" und "Kollektion", aber auch den jüngst entstandenen "Wiener Modellen" wird eine urbane Alltagsweit aus der Perspektive des Flaneurs ins Bild gerückt, die in ihrer Gewöhnlichkeit unmittelbar vertraut scheint. Beiläufig tastet ein omnipräsentes Auge die unspektakulären Ränder des Sozialen ab und fokussiert ungezwungen auf Momente, die dem öffentlichen Interesse nicht bildwürdig erscheinen. Seien es Portraits anonym bleibender Zeitgenossen, die bewusst vor der Kamera posieren, Schnappschüsse von Passanten, die unwissentlich ins Visier geraten sind oder belanglose Straßenszenen; seien es elegante Gewänder, die kundige Hände dem kaufwilligen Betrachter darbieten, ausgewählte Garderoben, deren sorgfältiges Arrangement die Geschichte ihrer Benutzung imaginiert, oder das malerische Durcheinander abgetragener Textilien auf dem Tisch eines Flohmarktstandes, welches von prüfenden Fingern durchwühlt wird: In der Zusammenschau präsentiert sich die Fülle gewissenhaft archivierter Augenblicke als Bildchronik einer ganz normalen Wirklichkeit, die zwar trivial, aber keineswegs uniform wirkt. Sie vergegenwärtigt die mannigfaltigen Erscheinungsformen des Banalen, von welchen jede einzelne einen konkreten Aspekt eines individuellen Da- seins veranschaulicht. In Summe vermitteln die durchwegs zurückhaltenden, behutsame Distanz zur ihren Objekten wahrenden Repräsentationen, was einst als Spezifikum es auratischen Kunstwerks galt: Authentizität, Originalität und Einmaligkeit. Jene Qualitäten also, welche die Moderne und ihre Nachfolge dem mimetischen Bild, das als dauerhaft geronnene Wahrnehmung interpretiert wird, nicht länger zumessen können. Denn Authentizität, Originalität und Einmaligkeit beschreiben in diesem Verständnis den Wunschhorizont aller vitalen Perzeption, die ihrerseits zur Grundbedingung jeder geglückten Selbstkonstitution stilisiert wird. Als ambivalenter Ausdruck der Sehnsucht nach einer Überführung von Kunst in Lebenspraxis, die mit dem wissenschaftlichen Streben nach künstlich generiertem Leben und virtuellen Weiten korreliert, beschwören die beliebig reproduzier- baren Repräsentationen per definitionem die zeitgemäße Spielart einen alten menschlichen Traums: Die Machbarkeit der Wirklichkeit als permanente Eigenschöpfung des sich seines Selbst bewussten Individuums.
Leo Kandl operiert in diesem Kontext als Agent des Gewöhnlichen. Er weiß um die gleichermaßen mächtige wie labile Funktion des Bildes sowie die unhebbare Differenz zwischen dem, was ist, und seiner Darstellung. Den sich seiner voyeuristischen Position bewussten Betrachter setzen all seine Kompositionen implizit voraus. Mit ungemeiner Bescheidenheit, aber voller Absicht konfrontiert dieser Magier des Augenblicks mit immer wieder frappierenden Ansichten der Alltagswelt, deren Gegenstände so vordergründig scheinen, dass sie die Frage nach dem abgründigen Dahinter, nach der tieferen Bedeutung des Augenscheinlichen nahezu zwingend provozieren. So setzt der jüngst fertiggestellte Zyklus "Wiener Modelle" anonym bleibende Zeitgenosslnnen in unterschiedlichen Szenarien ins Bild. Vor der Kulisse einer belebten Einkaufsstraße blinzelt ein Mann im farbenfrohen Sporthemd, leger auf der gemauerten Umfassung eines Abgangs zur U-Bahn sitzend, in die Linse und krempelt sich in der darauf folgenden Nahaufnahme akkurat die Hemdsärmel auf. Eine zornige junge Frau, die mit den hinter ihrem Rücken verborgenen Händen am Verschluss eines knapp sitzenden Trägerhemds zu nesteln scheint, funkelt den Fotografen durch ihre wilde Lockenmähne an, als sei sie im Park überrascht worden. Am Straßenrand inmitten einer öffentlichen Grünanlage gestikuliert ein Mann, als wolle er mit seiner geöffneten Linken einer Aussage Nachdruck verleihen. Die gesenkten Lider lenken den Blick auf sein sommerliches Outfit: Fransige Jeansbermudas und ein weißes T-Shirt, auf dem ein aggressiv anmutender Stierkopf prangt. Abgerundet wird die Wiener Melange durch Ganzfigurenbilder einer aparten jungen Dame, die abwechselnd im cremefarbenen Hosenanzug und in einem lässigen Ensemble aus Jacke, Mantel und dekorativem Schal auftritt. Ob sie vor dein Entree eines noblen Hotels stehend und unbeachtet von einem sich rücksichtslos in die Szene drängenden Mann im Straßenanzug schützend die Hände vor die Augen legt oder sich mit verschmitztem Lächeln auf einem Gartentisch hockend dem Fotografen zuwendet, ob sie in hochhackigen Schuhen entschieden eine Treppe hoch- stöckelt oder in einer Passage von einem Wartenden in Augenschein genommen wird, während ihr prüfender Blick dem Fotografen gilt, stets vermittelt sie, wie all die anderen Portraitierten auch, Bewusstheit. Sie weiß um

das Faktum der Ablichtung und inszeniert ihre Erscheinung. Dem öffentlichen Blick offeriert sie einen formellen Auftritt. Die den Anschein des unmittelbaren Schnappschusses erweckenden Bildnisse entpuppen sich damit als Grenzgang zwischen den heterogenen Bildgattungen der Mode-, der Reportage- und der Portraitfotografie. Die Abgebildeten sind durchwegs per Inserat gesuchte Zeitgenosslnnen, die in ihrer privaten Garderobe nach ihren persönlichen Vorstellungen für den Fotografien posieren. Die Art ihrer Selbstpräsentation spiegelt ein Wissen um die Imagines der Medienkultur, um die herrschenden Bilder, denen es sich kreativ zu widersetzen oder formvollendet anzupassen gilt. In der direkten, an der exakten Zeichnung noch der nebensächlichsten Details interessierten Ablichtung aber offenbaren sich die evidenten Brüche zwischen der schimmernden Welt der medialen Repräsentation und dem unverstellten Blick auf die Stofflichkeit der Dinge. Die kompositorische Klarheit des Bildaufbaus konterkariert, zusammen mit einer ausgefeilten Lichtregie, die auf Kunstlicht verzichtet und den Kontrast zwischen Sonnenseiten und Schlagschatten - den Live-Aspekt also - als Spannungselement einsetzt, den auf Produktästhetik ausgerichteten Ansatz der Modefotografie, welche die exaltierten Stars vor und hinter der Kamera letztendlich nur aufbringt, um ihre Ware optimal am Markt zu positionieren. Zugleich experimentieren die zwischen Enigma und Personenkult changierenden Bilder mit einem von der Avantgarde zwar wiederholt totgesagten, bis heute aber noch nicht gelösten Problem aller bildenden Künste, der Mimesis. Ungeschönt und direkt repräsentieren sie Wirklichkeit, holen Vergangenes in die Gegenwart der Anschauung zurück. Ohne sich affirmativ anzubiedern, bezeugen sie neben der Evidenz banaler, der komplexen Struktur des Sozialen entsprechend ausdifferenzierter Leitbilder aber noch ein Zweites: Das Begehren nach Selbstverständlichkeit und selbstbewusster Freiheit im Umgang mit der je individuellen Realität.
Das bedeutungsvolle Spiel mit überkommenen Bildgattungen hat im Oeuvre Leo Kandls Tradition. Schon die Werkgruppe "Kollektion", die das Eigenleben neuer, getragener, verschlissener Gewänder sowie den Reiz von Theaterkostümen erforscht, schreibt die Geschichte des Stillebens fort. Die seit dem Spätmittelalter gepflogene Manier, Gegenstände des täglichen Gebrauchs in dekorativer Anordnung darzustellen, rückt die stoffliche Präsenz der Dingweit, ihre greifbare Existenz in Zeit und Raum, ins Zentrum des Interesses und ruft mittels ihrer mimetischen Abbildung, die sinnliche Erfahrung des de facto Abwesenden in Erinnerung. Diese dem Stilleben immanente Auseinandersetzung mit Repräsentation und Simulation wird durch die Einführung des Motivs Bekleidung zu einem raffinierten Spiegelgefecht vorangetrieben. Denn die stofflichen Hüllen, welche die ambivalente Grenze zwischen der privaten Wahrnehmung und der öffentlichen Erscheinung des Körpers bilden, sind primäres Objekt des Abbildungsinteresses, weil sie - im unbenutzten Zustand und von ihren Besitzern in mehr- facher Hinsicht abgelegt- selbst als Repräsentation eines Abwesenden fungieren, über welches das bildhafte Zeugnis schweigt. Der scheinbar absichtslose Blick auf die Kleidung von Männern und Frauen, der nicht spontanes Produkt einer zufälligen Beobachtung, sondern kalkuliertes Resultat eines minuziösen Arrangements ist, offenbart allerdings eklatant unterschiedliche Ansichten. Den spielerischen, scheinbar beiläufig hingeworfenen Damenroben, die sich neugierigen Einblicken gleichgültig öffnen, stehen akkurate Abbildungen ordentlich drapierter Herrengarderoben gegenüber, welche deren symbolische wie konkrete Schutzfunktion herausstreichen. In toto bildet die versammelte Kollektion eine Bestandsaufnahme, welche die mannigfachen Weisen, Kleidung zu tragen, archiviert. Die kommentarlose Auflistung von "natura morte", ein letztlich nostalgischer Versuch, der Wirklichkeit an Hand der Spuren, die sie hinterlassen hat, zu gedenken, gerinnt in Leo Kandls Vexierspiel zum Vanitassymbol, das moralisierend auf die Endlichkeit der Dinge, auf die Vergänglichkeit des Faktischen und die Flüchtigkeit des Augenblicks verweist.
Jenen besonderen Moment zu fixieren, in dem sich die Erscheinung der Dinge im Auge des Fotografen zum Bild schließt, reizte den eher am Leben denn am Artefaktischen interessierten Künstler schon zu Beginn seiner Karriere. In den siebziger Jahren, zu einer Zeit, da die medientheoretische Diskussion um den Wirklichkeitsgehalt der Fotografie kreiste und das komplexe Verhältnis zwischen visueller Wahrnehmung und dokumentarischem Abbild als Inszenierung enttarnte, knüpfte Leo Kandl mit ersten fotografischen Versuchen an Darstellungstech- niken der klassischen Reportage- und Dokumentarfotografie an. Sich des unzeitgemäßen Gestus durchaus bewusst, entwickelte er Bildtechniken weiter, die von der "Neuen Sachlichkeit" etabliert und vom Bildjournalismus der Nachkriegszeit perfektioniert worden waren. Seit damals zielt er - so weitläufig das Forschungsgebiet auch geworden ist, das er mit seinem wachsamen Auge durchstreift - darauf ab, sinnliche Erfahrungswerte zu ver- mitteln und die Oberflächenstruktur der Wirklichkeit möglichst objektiv und genau wiederzugeben. Die Grenzen des Mediums scheinen ihm evident, ohne je als störend empfunden zu werden: Meine Möglichkeiten zur Artikulation sind fragmentarisch, auch sind meine fotografischen Themen nie abgeschlossen... Ich glaube nicht an schlüssige, fertige Fonnulierungen und kann deshalb auch keine abgeschlossenen Statements liefern. (Leo Kandl, 1995)

Edith Almhofer
Gumpoldskirchen, im Januar 1999

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